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                   Aus dem Nachwort 
                   
                    Feldlinien – das 
                    läßt an wogende Felder mit Spuren schwerer Traktoren 
                    denken, die sich wie Streifen quer übers Land ziehen, 
                    an Kornkreise oder jene riesigen Gebilde in der Peruanischen 
                    Wüste, die erst Luftaufnahmen als rituelle Tierzeichen 
                    zu erkennen geben.  
                    Das Titelgedicht des vorliegenden Bandes spricht von dem halb 
                    Fertigen, an dem die Leute ihr Leben lang bauen. Von dem „mittel 
                    an zeit“, das ein jeder ergreift, damit es aufgehe, 
                    wie ein Samen, wenn man es losläßt. Das Geschaffene 
                    als Lebensfeld, sich rundend wie in Jahresringen. 
                    Der Band, der 73 Gedichte aus einem Vierteljahrhundert vereint, 
                    bietet solche Feldlinien in vielerlei Gestalt: Linien, die 
                    das Arbeitsfeld der Autorin vermessen, die Bleibendes ausmachen 
                    und den Blick für Rätselhaftes schärfen. Indem 
                    die Gedichte nicht chronologisch nach ihren Entstehungsjahren 
                    geordnet, sondern nach Themenkreisen komponiert werden, erscheinen 
                    sie als lebendig verwobene Ganzheit, die noch andere Feldlinien 
                    assoziiert. In der Physik versteht man darunter jene Linien, 
                    die die Kraft eines Feldes verdeutlichen. Je dichter die Linien, 
                    desto stärker das Feld.  
                    Der Prolog umkreist das Feld, schlägt den Grundton des 
                    Ganzen an: Leben in einem Land, das kein Land ist, das eine 
                    Sprache hat, die es nicht braucht. Die Lausitz als Land der 
                    Sorben. 1951 in Zerna bei Kamenz geboren, bringt Róa 
                    Domašcyna eine Erfahrung dreier Generationen zur Sprache: 
                    die Auflösung des gemeinsamen Lebensgrundes. Nicht nur 
                    die sorbische Sprache weicht im Alltag dem Deutschen, auch 
                    die damit verbundene Kultur erstarrt, auf exotische Trachten 
                    reduziert, zum Dekor für Spreewaldtouristen. Und der 
                    Boden schwindet unter den Füßen, denn ein Dorf 
                    nach dem anderen fällt der Braunkohle zum Opfer. 
                    Von alledem berichten die Gedichte der Autorin, die zunächst 
                    Bergbau studiert hat, bevor sie am Leipziger Literaturinstitut 
                    die Tiefenbohrungen des Schreibens erprobte. So steigt sie 
                    in einem ersten Kreis in die eigne Kindheit hinab, um das 
                    Verstummen daheim, die verschwiegenen Wunden der Eltern zutage 
                    zu fördern. Und wird sich selbst zum Fabeltier, zur „habenix“, 
                    die nur einen „zungenbrecher/namen“ ihr eigen 
                    nennt, nicht ortbar im „treib/sand“ wandernder 
                    Dünen. Lebendig aufbegehrend, indem sie sich mitten hinein 
                    begibt in das Widersprechende, zwischen die Sprachen, die 
                    sie zum Puzzle mixt, zum dadaistischen Duda verwirrender Verhältnisse. 
                    Bis hin zum stummen Schrei der Zaungucker, die heute wieder, 
                    „ausgesetzt/am markt“, hinter unsichtbaren Zäunen 
                    stehn. Und da ist noch ein anderes Begehren, ein Feld, auf 
                    dem die Kraftlinien sich am stärksten verdichten: das 
                    Verlangen nach dem Anderen. Auch hier kein Idyll, keine „artigkeiten“. 
                    Liebe, die aufs Ganze geht – sinnlich, leiblich, direkt: 
                    „alles außer dir/ist außer mir“. In 
                    den sorbischen Mythen lebt, trotz katholischer Überformung, 
                    noch etwas heidnisch Archaisches fort. Da verkörpert 
                    sich das Weibliche nicht nur in der Dulderin Maria, sondern 
                    auch in der Tödin. Seit Jahren führen Karl-Georg 
                    Hirsch und Róa Domašcyna gerade über 
                    diese Gestalt einen Dialog in ihrer jeweils eigenen Sprache. 
                    Das Frontispiz zu diesem Band antwortet auf ein Gedicht, das 
                    einem Bild des Holzschneiders galt. In gebrochenen Erdfarben, 
                    mit Umbrabraun und einem Hauch Grün und Gelb, mögen 
                    die Holzschnitte den bitter-zarten Ton der Verse aufnehmen, 
                    dieses Sprechens gegen das Verstummen. 
                  
                     
                  Leseprobe 
                  Feldlinien 
                     
                    an der strecke 
                    die häuser immer halb 
                    fertig die menschen ihre leben immer halb 
                    gelebt gedacht  
                    daß es tatsächlich noch ein halbes gibt 
                    und sie bauen an vergrößern entwerfen dazwischen 
                    der wechsel im jahreskreis der kein ende findet 
                    die zäsuren die man sich ausrechnet 
                    da man sich zeiteinheiten anrechnet 
                    von sommer zu 
                    sommer der wind ist die episode 
                    die den wechsel vorantreibt zwischen  
                    anziehung abstoßung vollkommen 
                    in dieser willkür was reif ist 
                    was untragbar wird 
                    richtet sich aus bricht 
                    löst sich auf wird humus nimmt den keim 
                    daß er seinem sinn nachgehe: zu tragen  
                    ertragen daß es wächst 
                    aus dem halb zwischen dem ist und dem war 
                    dort am hang das haus das getier die person 
                    mit ihrem mittel an zeit das sie ergreift 
                    das sie sich abzählt und rundet 
                    daß es ihr aufgeht 
                    indem sie es losläßt 
                   
                     Wir saßen am fuß 
                     
                    Wir saßen am fuß eines hügels, 
                    das kind und ich. 
                    Ich schlug ein buch auf. Lies laut, sagte das kind. 
                    Da sprach ich: Li-Tai-Bo: 
                    Entschwunden sind längst die Vögel in lichteren 
                    Höhn. 
                    Wer weiß, wohin jedes müßige Wölkchen 
                    entwich. 
                    Zwei gibt es, die können einander nie genug sehn: 
                    Der Dsching-Ting-Berg und ich. 
                  Ja, sagte das kind. 
                   
                    Zaungucker 
                     
                    Wir fassen uns und können 
                    es nicht fassen: 
                    Hier sind wir wer, wir sind allein. Gelassen 
                    ist nur der schnee, taut unterm fuß hinweg – 
                    embleme, zeichen einer macht im dreck. 
                  Sind wir denn kinder? Sind 
                    wir ausgesetzt 
                    am markt, mit rotem heller strafversetzt? 
                    Nichts spricht uns frei, wir haben laut geschwiegen, 
                    sind hungrig, greifen alles, was wir kriegen, 
                  und stopfen zuckerwatte in 
                    uns rein, 
                    die liegen bleibt und drückt und wird zu stein. 
                    Ich grab die hand mir in die tasche, grab mich ein 
                    und schließ den mund, um stumm herauszuschrein. 
                     
                  Pressestimmen 
                  Roza Domascyna schreibt – 
                    dichtet vor allem – sowohl sorbisch als auch deutsch, 
                    sie ist in beiden Sprachen zu Hause. Man könnte es auch 
                    so formulieren, dass mit dieser Dichterin sich das Sorbische 
                    im Deutschen zu Hause fühlt. Und das ist ein Reichtum 
                    für die deutsche Sprache. Dem slawischen Sorbisch, das 
                    zu verstummen droht, gibt Domascyna seine Lebendigkeit zurück, 
                    indem sie in ihren Gedichten einzelne Wörter geschickt 
                    in die deutschen Sätze herüberzieht und mit dem 
                    Sinn der Wörter und Wendungen so spielt, dass sie einem 
                    auch auf Deutsch verständlich werden.  
                    Aber Domanscyna erläutert nicht etwa einfach nur Sprachliches. 
                    Vielmehr erzählt sie Geschichten anhand der zunächst 
                    unbekannten Wörter, mit denen sie spielt. Mal zeigt sie 
                    Bilder aus der Kindheit, mal greift sie auf die Kriegszeit 
                    zurück, porträtiert den verstummten Vater, die Großmutter, 
                    die sie sorbisch anspricht. Wie Traumgebilde wirken manche 
                    Gedichte, wie Schreckensträume einerseits und Liebesträume 
                    andererseits; nie trostlos oder weinerlich, sondern knapp 
                    und fein belichtet. Schön, diese souveräne Sprachbewahrerin 
                    zu kennen, eine deutsche Dichterin, die dem Leser neue Wörter 
                    oder Wortwelten schenkt ... 
                    Gestaltet und mit einem Nachwort versehen hat den Band Jens-Fietje 
                    Dwars. Und zu der gut komponierten Auswahl der Gedichte aus 
                    25 Jahren gehören 5 Holzschnitte von Karl-Georg Hirsch, 
                    der die Autorin mit seinen Arbeiten seit Jahren begleitet. 
                    Zsuzsanna Gehse, in: Südkurier 
                    Nr. 159, 14. Juli 2014 
                     
                    Der Vers der 1951 geborenen Lausitzerin nimmt 
                    aus Erdberührung seine Himmelssehnsüchte. Krume 
                    und Kumulus. Beim Blick auf Landschaften und in Seelenverzweigungen: 
                    sichtende Benommenheit statt allzu passabler Intelligenz. 
                    Das Staunen als Ausdruck eines Innestehens, nicht der Befremdung. 
                    Sie lebt in den Schönheiten und Verlusten des Sorbischen; 
                    ihr ist Sprache wie ein Gras, das den Stein bewächst 
                    und das, einmal ausgestreut als Samen des Unkrauts, schleunigst 
                    das Weite sucht. Das Offene wie ein gelobtes Exil,„allein 
                    gelassen floh einzig/ mein verbliebener schatten/ schreiend 
                    über die tenne davon“. Hirschs Grafiken sind in 
                    in diesen Gedichten, die auch zerschundene Landschaft erzählen, 
                    wie Feiern einer störrischen, ungelenken Verschrobenheit 
                    ... 
                    Die Gedichte der Sorbin sind Band 13 von Dwars' Edition. Es 
                    sind Bücher großer Liebe zur Kunst des Buchmachens 
                    ..., kurzum: buchkünstlerische Innigkeit, verlegerischer 
                    Idealismus. 
                    Hans-Dieter Schütt, in: Neues Deutschland 
                     
                    Die Ernte aus vielen Jahren, fünf Einzelbänden und 
                    einem bislang unveröffentlichten Manuskript von 2013. 
                    Eine Exklusiv-Auswahl, vermischt mit Neuem; die Texte aus 
                    den Neunzigern überzeugten den Rezensenten am meisten. 
                    (...) Im Nachwort verweist der Herausgeber auf den „Grundton 
                    des Ganzen (…): Leben in einem Land, das kein Land ist, 
                    das eine Sprache hat, die es nicht braucht“. Dass aus 
                    derlei Zweifeln und Verzweifeltheiten dennoch Texte entstehen 
                    von verwirrender Schönheit, ist eine Freundlichkeit, 
                    die uns die Dichterin freigebig schenkt. 
                    Matthias Biskupek, in: Palmbaum, Heft 2/2014 
                     
                    Die 1951 in der Nähe vom ostsächsischen Kamenz geborene 
                    Róa Domašcyna legt in der Edition Ornament 
                    unter dem Titel "Feldlinien" Gedichte aus 25 Jahren 
                    vor. Ihre Lyrik besticht mit souveräner Handhabung der 
                    klassischen lyrischen Methode, die aus einer Anekdote, einer 
                    kleinen Beobachtung großen poetischen Mehrwert gewinnt. 
                    Dies gelingt ihr in Liebesgedichten genauso wie in solchen, 
                    in denen sich die Dichterin von der sorbischen Tradition und 
                    Kultur bestimmt zeigt. "Ein sehr, sehr schönes Buch." 
                    (Thomas Kunst) "Ein herrlicher Band ..." (Michael 
                    Hametner) 
                     Buchjournal, MDR-Figaro, 13. November 
                    2013 
                     
                    ... znowa sej wuwedomich sylnu skutkownosc, rjanosc 
                    a wuprajiwosc w lyriskej reci Róe Domašcyneje. 
                    Z tym menju wobe reci, w kotrymaj wona doma je. A te 
                    w tutej zberce jewja so serbske slowa, kotre basnica 
                    ka samozrozumliwje do pozdatnje nemskeho konteksta splece, 
                    sukuje a rozsukuje. ... Do basnje „Puzzle“ (38) 
                    zaprija Róa Domašcyna dzele wobeju recow 
                    a zdobom dzelenje lyriskeho subjekta: „indem ich mich 
                    teile / teile ich meine sprache mittig / teile mich durch 
                    und mit“. A dzelenje je zdzelenje w zwukach recow, kotre 
                    tworja zhusceny cylk z nad- a podzynkami ... 
                    Duet, duel a dual so w tematiskich kruhach lyrikarki rozprestrewaja 
                    a w napjatosci recow fascinuja. A štó je 
                    so jónu wot basnjow Róe Domašcyneje 
                    zakuzlac dal, tón chce to stajnje znowa. 
                    (.... erneut wurde mir die starke Wirkung, Schönheit 
                    und Aussagekraft der lyrischen Sprache Róa Domašcynas 
                    bewusst. Damit meine ich beide Sprachen, in denen sie zu Hause 
                    ist. Sorbische Worte stehen wie selbstverständlich im 
                    scheinbar deutschen Kontext, verknüpfend und auflösend 
                    umkreisen sie zum Beispiel das Thema Kindheit ... Das lyrische 
                    Subjekt deutet und sortiert Teile beider Sprachen nach „Puzzle“-Manier 
                    und stellt fest: „indem ich mich teile / teile ich meine 
                    sprache mittig / teile mich durch und mit“. Und die 
                    Teilung ist eine Mitteilung in Sprachlauten ... 
                    Duett, Duell und Dual breiten sich in den thematischen Kreisen 
                    der Lyrikerin aus und faszinieren im Spannungsfeld der Sprachen. 
                    Und wer einmal dem Zauber der Gedichte Róa Domašcynas 
                    verfallen ist, der will es immer wieder.) 
                    Merana Cušcyna, in: "Rozhlad" 12/2014, 
                    Sorbische Kulturzeitschrift 
                     
                      
                   
                   
                     
                     
                   
                   
                   
                   
                    
                     
                   
                   
                      
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